Beifuß: Der vergessene Dämonenvertreiber, Magenheiler und Frauenfreund

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Wenn unsere Vorfahren wüssten, dass ihr einst wichtigstes Magie- und Heilkraut später ein traurig monothematisches Dasein als Gänsebraten-Gewürz fristen würde – sie wären entsetzt. Und tatsächlich weiß heute kaum noch jemand um die enormen Zauber*- und Heilkräfte, die im Beifuß stecken. Vorher hatte man jahrhundertelang seine Hilfe immer dann in Anspruch genommen, wenn eine „andere Welt“ greifbar nah kam:

während der Geburt, bei der Initiation junger Erwachsener und der Schamanenweihe, auf dem Kranken- und Sterbebett. In vorchristlicher Zeit sprang man an Sonnwend mit nichts als einem Beifußkranz um die Hüften bekleidet übers Feuer, um die Geister fürs restliche Jahr milde zu stimmen und Kraft zu sammeln (daher sein Volksname Sonnwendgürtel).

Heimisch ist der bis zu eineinhalb Meter hohe, verzweigt wachsende Korbblüter mit den gefiederten, oben dunkelgrünen und unterseits silbrig behaarten Blättern auf der gesamten Nordhalbkugel. Dabei stellt er kaum Ansprüche an seinen Standort: Beifuß fühlt sich an Wegrändern und Bahntrassen ebenso wohl wie auf Schutthügeln und Brachflächen. So omnipräsent, so unscheinbar ist die Pflanze, dass wir sie automatisch als Unkraut (was für ein unpassendes Wort!) empfinden. Vielleicht haben wir sie bei einem Spätsommer-Spaziergang schon einmal versehentlich getreten oder gestreift und uns dann über den aromatisch-bitteren Duft gewundert. „Hm, das kenne ich irgendwoher“, dachte wir vielleicht, bis uns einfiel: Na klar, der Gänsebraten! Hier hilft das Gewürz traditionell, die von Fett triefende Speise besser zu verdauen, ohne dass Leber und Galle dabei Kapriolen schlagen müssen. Dafür sind vor allem die üppig vorhandenen Bitterstoffe sowie ätherische Öle verantwortlich. Menschen mit träger Verdauung und allgemein schwacher Konstitution profitieren deshalb von Beifuß in jeder Form. Aromatisieren Sie doch mal reichhaltige Käse-, Kartoffel- oder Kartoffelgerichte damit; Ihr Magen wird es Ihnen danken.

Grüne Kapsel mit BlattVon antimikrobiellen ätherischen Ölen und Gerbstoffen konnten die Weisen der alten Zeit freilich nichts wissen. Intuitiv setzten sie Beifußzubereitungen dennoch genau richtig überall da ein, wo spasmolytische (krampflösende), durchblutungsfördernde und keimwidrige Wirkungen gefragt waren – vor allem bei Magen-/Darm- und Frauenleiden. Diese Indikationen übernahmen sämtliche berühmten Heilkundigen, von Dioskurides bis Hildegard von Bingen: Das Weiber- oder Jungfernkraut, die Schoßwurz, das „Kraut der Frauen- und Heilgöttin Artemis“ (botanisch Artemisia!) taucht in allen bedeutenden Kräuterbüchern auf.
Selbst in der traditionellen chinesischen Medizin (TCM) hat Beifuß folgerichtig einen Organbezug zu Magen, Milz, Leber-Galle und Niere. Hier kommen ebenso Tees zum Einsatz wie kleine aus dem Kraut gepresste Räucherkegel, die auf bestimmten Meridianpunkten des Körpers abgebrannt werden (man nennt diese Behandlung „Moxen“).

Sie sehen: Beifuß sollte man im Hause haben, und zwar nicht nur im Gewürzregal. Ein Tee aus den knospigen Blütenrispen schmeckt bei maximal 5 Minuten Ziehzeit überraschend mild – ganz anders, als man bei seinem stark aromatisch-bitteren Duft erwarten würde. Trinken Sie von diesem Tee z.B. bei Völlegefühl, Sodbrennen, Menstruationskrämpfen oder „erkältetem“ Magen bis zu drei Tassen täglich, aber nicht länger als eine Woche lang am Stück; danach ist eine Pause von etwa 3 Wochen sinnvoll.

ACHTUNG: In der Schwangerschaft ist die Anwendung von Beifuß kontraindiziert, weil er aufgrund seines Thujongehalts Gebärmutter-Kontraktionen anregen und damit die Geburt auslösen kann. Diesen Effekt machten sich über Jahrhunderte hinweg Hebammen und Kräuterweiber zunutze, wenn Wehen nicht recht in Gang kommen wollten oder eine Frau unter dem Ausbleiben der Periode litt. Bei bestehender Korbblüter-Allergie sollte man bei der Anwendung ebenfalls Vorsicht walten lassen.

* Nur wenige eingeweihte Schamanen verräuchern das Kraut weiterhin vor magischen Ritualen, um die Atmosphäre zu reinigen und die Ahnenwelt einzuladen. Davon mag man halten, was man will … doch ist es nicht von der Hand zu weisen, dass sich ein mit Beifußrauch ausgefächerter Raum erleichtert, ja irgendwie frei anfühlt. Neben bösen Dämonen vertreibt dieser Rauch im Außenbereich übrigens auch effektiv lästige Stechmücken: eine kostenlose Alternative zu den oft giftigen handelsüblichen Mitteln. Nehmen Sie beim nächsten Spaziergang also ruhig ein ordentliches Büschel mit und hängen es zum Trocknen auf! Ziehen Sie jedoch vorher ein Kräuterbuch oder das Internet zu Rate: Während Verwechslungen mit dem recht ähnlichen Wermut und der Eberraute wegen ähnlicher Wirkung nicht tragisch wären, könnte ein Kontakt mit der höchst allergiepotenten Ambrosia-Pflanze unangenehme Folgen haben.