Enzian: Der bitterstarke Bergdoktor  

„Blau, blau, blau blüht der Enzian“ singt Schlagerbarde Heino – und hat damit leider nur der hübsch anzusehenden Cousine des eigentlichen Heilpflanzen-Stars ein Denkmal gesetzt. Denn die zahlreichen blau blühenden Enzianarten sind zwar eine Augen- und Bienenweide, aber medizinisch wertlos. Die eigentlichen Superkräfte stecken in der nicht selten armdicken, bis zu einen Meter langen und mehrere Kilogramm schweren Pfahlwurzel des gelben Enzians. Sein botanischer Name Gentiana lutea beinhaltet das lateinische Wort luteus für „goldgelb“, was sowohl für die Blüten als auch die färbenden Xanthone in der Wurzel gilt. Der Gattungsname Gentiana wiederum geht laut Plinius dem Älteren auf den illyrischen König Gentius (180–168 v. Chr.) zurück, der recht heilkundig und ein regelrechter Enzian-Fan gewesen sein soll. Heute kennt man die unter Naturschutz stehenden Alpenpflanze, die erst nach 5 bis 10 Jahren einen stattlichen, bis zu 2 Meter hohen Blütentrieb entwickelt, je nach Region unter verschiedensten Synonymen: Bitterwurz, Bergfieberwurzel, Jänzene, Sauwurz, Halunkenwurz, Heil aller Schäden oder Zinzalwurz sind nur einige davon.

Seit dem Altertum hat sich der Ruf des Arznei-Enzians stetig verbreitet, und das völlig zu Recht. Heilkundige aus aller Welt, z.B. die berühmten Ärzte Dioskurides, Plinius und Galenus, empfahlen ihn gegen Beschwerden des Magen-Darm-Trakts, der Leber und der Galle, bei Parasitenbefall, ausbleibender Periode, „inneren Zerreißungen“, Gicht und zahlreiche weitere Indikationen. Schlecht heilende Wunden wurden mit starkem Enziansud von außen behandelt. Auch verwendete man Enzianwurzel manchmal anstelle der viel selteneren und teureren sagenumwobenen Alraune für Rituale oder Beschwörungen. Als Zutat des legendären Allheilmittels Theriak (eine Rezeptur ähnlich dem noch immer verwendeten Schwedenbitter) war sie unentbehrlich.

Später lobten Hieronymus Bock, Hildegard von Bingen und im 19. Jahrhundert dann Kräuterpfarrer Sebastian Kneipp das damals noch vielerorts wild wachsende Bitterwunder: „Wer ein noch so kleines Gärtlein hat, der soll drin haben einen Enzianstock, einen Salbeistock und einen Wermutstock; dann hat er sogleich eine Apotheke in der Hand.“ Bergbauern der Alpengebiete mischten das sogenannte „Fresslust-Pulver“ nicht nur unters Tierfutter, sondern legten sich auch frische Enzianwurzeln in die Schuhe, um müden Füßen vorzubeugen. In Tirol war und ist man von der Beinahe-Allesheil-Kraft überzeugt: „Wia d‘Enzianwurz isch koani so stark!“

Heute wissen wir:

Medizinisch bedeutsam sind die Bitterstoffe der Enzianwurzel, darunter das Amarogentin (lat. amarus = bitter). Sein Bitterwert übertrifft alle anderen bekannten Heilpflanzenstoffe: Mit nur einem Gramm davon würden noch 58.000 Liter Wasser bitter schmecken!

Gegenüber anderen Bittermitteln wie Wermut, Tausendgüldenkraut etc. ist Enzian ein sog. „reines Amarum“. Seine Wurzel enthält nämlich kaum Gerbstoffe, zieht deshalb die Schleimhäute nicht zusammen und kann deshalb isoliert wirken, ohne dass es dabei schnell zu Magenreizungen kommt.

Grüne Kapsel mit BlattNoch immer sind Zubereitungen aus Enzian, z.B. Tee, Tinkturen oder Magentonika, eine sinnvolle Option bei Verdauungsbeschwerden aller Art. Die sanfte Reizung und Mehrdurchblutung der Magenwand regt die Sekretion von Magen- und Gallensäure sowie des Verdauungshormons Gastrin an und auch die Bauchspeicheldrüse läuft zu Hochform auf. So können v.a. fettige, schwere Speisen besser zerlegt werden, ohne dass sich Fäulnisgase bilden, und die Darmpassage wird erleichtert. Ein Segen für alle, die von Völlegefühl, Blähungen, Magenschwäche oder Appetitlosigkeit geplagt sind!

Indirekt wirkt Enzian außerdem reflektorisch (ähnlich wie z.B. Efeu) auf die Bronchien, wo sich Schleim besser löst und somit leichter abgehustet werden kann.

WICHTIG:

Zur Anregung der Verdauung müssen Bitterdrogen immer spätestens eine Viertelstunde vor dem Essen eingenommen werden! Nur so können sie den Magen auf die folgende schwere oder fettige Speise „vorbereiten“ und die nötigen Verdauungssäfte ausschütten.

Zur Zubereitung eines Tees wird 1 TL getrocknete Enzianwurzel pro Tasse (oder 1 Teebeutel) idealerweise kalt angesetzt, nach einigen Stunden 5 Minuten lang aufgekocht  und dann abgeseiht. Wer’s übers Herz bzw. über die Zunge bringt, trinkt das wirklich sehr bittere Gebräu ungesüßt; ansonsten ist ein Löffelchen Honig durchaus erlaubt.

ACHTUNG:

Für Bluthochdruckpatient*innen, Schwangere sowie Menschen, die an einem Magen- oder Zwölffingerdarmgeschwür leiden, sind starke Bitterstoffdrogen wie Enzian nicht zu empfehlen. Auch sind extrem hohe Dosierungen zu vermeiden; sie können zu Kopfschmerzen führen.